Anlass des Beitrags:
Ein Beitrag der Erlanger Nachrichten vom 21.12.2020
Thema: Der Himbeerpalast
Daraus herausgegriffen: Das verrollte (verschobene) Haus.
1948 wurde mit dem Neubau des SSW-Stammhauses (später Himbeerpalast genannt) begonnen. Hierzu musste ein Wohnhaus verrollt werden. Dieser Beitrag bezieht sich darauf und ist evt. ein Vorschlag für einen Spaziergang.
Erlangen 1950 und das "Verrollte Haus"
Der Bauplanung am Verwaltungsgebäude der Siemens-Schuckert-Werke AG stand ein in den Jahren 1928/29 erbautes Zweifamilienhaus, das ehemalige Pfarrhaus der benachbarten St. Bonifazius-Kirche, im Wege. Um dem Fortschritt zu dienen und Wohnraum zu erhalten, entschieden sich die Siemens-Schuckert-Werke AG zu einer als wirtschaftlich erkannten Verrollung im Jahre 1950. Damit wurde zum ersten Male in Deutschland ein massives Backsteinhaus über eine größere Entfernung mit Erfolg verrollt. Es war das Jahr, in dem auch die Perlonfaser den amerikanischen Nylons Konkurrenz ansagten.
Der Gedanke zu diesem Unternehmen wurde kurioserweise am Stammtisch geboren. Durchaus scherzhaft gemeint, warf in jener Stammtischrunde einer der leitenden Ingenieure den Gedanken auf, wie großartig es wäre, wenn man das Haus kurzerhand auf Rollen stellen und an einen anderen Standort bringen könnte. Der Gedanke zündete. Bereits am nächsten Tage wurden die umfangreichen und zeitraubenden geistigen Vorarbeiten, die insgesamt eine Summe von 10.000 DM verschlangen, in Angriff genommen. "Eine Verschiebung im ganzen konnte sich auf höchstens zwei Drittel der Neubaukosten belaufen", lautete die damalige Einschätzung dieser Unternehmung.
Den Gesamtauftrag erhielt die Firma Collin & Co., Nürnberg. Als Subunternehmer für Anfertigung und Lieferung der Transporteinrichtungen sowie Gestellung von Spezialmonteuren wurde die Firma Noell aus Würzburg gewählt.
Für die Prüfung und Überwachung und darüber hinaus für eine intensive Mitarbeit an den statischen Berechnungen konnte Baurat Genau von der Landesgewerbeanstalt Nürnberg gewonnen werden.
Das Risiko übernahm die Frankfurter Versicherungs-AG.
Aus Profileisen, die die tragenden Wände einklemmten und untereinander versteiften, wurde der Tragerahmen gebildet. Das 635 t schwere Haus wurde mit Hilfe von hydraulischen Wasserdruckpressen um 90 cm gehoben, um darunter die Fahrbahn verlegen zu können. An den Kreuzungspunkten des Tragerahmens wurden Rollen angebracht. Nach einem Absenken auf die Fahrbahn war das Haus rollbereit.
Das zu verschiebende Gebäude war voll unterkellert, zweigeschossig, der Dachraum teilweise ausgebaut. Es war in üblicher Backsteinbauweise errichtet, und zwar Außenwände 38 cm dick (Kellerwände 51 cm), sämtliche Zwischenwände, mit Ausnahme der 25 cm dicken Trennwand des Doppelhauses, 12 cm dick.
Zunächst wurden alle Anschlüsse, die das Gebäude mit dem Baugrund verbanden, gelöst. Ansonsten blieb das Haus im bewohnbaren Zustand. Während des ganzen Transportes enthielt es das Büro der Bauleitung, das ständig mit Heizung, Licht und Telefonanschluß versehen war.
Drei 5-t-Handkabelwinden bewegten das Haus mittels achtfach übersetzter Flaschenzüge mit einer maximalen Geschwindigkeit von 8 m/h. Ein vierter Flaschenzug war rückwärts zur Sicherung und Steuerung eingesetzt. Am ersten Wendepunkt musste das Haus gehoben, die Rollen um 90° gedreht und danach das Haus wieder abgesetzt werden. Der gleiche Vorgang wiederholte sich am zweiten Wendepunkt.
Nach 110 m Verschiebeweg sind noch 20 m Strecke zu überwinden. Am Zielort musst das Haus noch um 7 grd/10 Min gedreht werden, um es in die Straßenflucht zu bringen.
Nach sechs Wochen am 17.3.1950 stand das Haus über seinem vorbereiteten neuen Fundament und meine Eltern konnten mit 5 Kindern am 8. Juni 1950 einziehen. Die zweite Hälfte war ebenfalls von einer Familie mit 5 Kindern bewohnt. Zehn Kinder unter einem Dach! Nach den eingeschränkten Kriegsjahren war das Freiheit pur!
Dieses Haus musste 19?? durch Abriss einem Erweiterungsbau der Siemens AG weichen.
In der abschließenden Bewertung dieses Projektes hieß es: "Die erfolgreiche Durchführung des beschriebenen Projektes beweist, dass nach sorgfältiger technischer und wirtschaftlicher Prüfung die Verschiebung eines ganzen Hauses in manchen Fällen dem Abriss vorzuziehen sein wird. Vor allem bei wertvollen Gebäuden, die unseren neuen Städteplanungen im Wege stehen, sollte man diese Möglichkeit in Betracht ziehen."
Wie wäre es, wenn diese Idee auf die Häuser der Martinsbühler- und Pfarrstrasse übertragen würde? Schon könnte die Dechsendorfer Brücke durch eine weitere Fahrbahn verbreitert werden um den starken West-Ost-Autoverkehr störungsfrei aufzunehmen.
Hinweis: Die Daten und Bilder sind von Hans-Jörg Nüsslin